Europa - der gekochte Frosch?

Ich sauge Informationen über den Ukrainiekrieg auf, bin geschockt und innerlich wund, weiß nicht, was ich tun soll, außer plötzlich spät am Abend Anfälle zu bekommen, ein gesamtes Spaghettipaket auf einmal samt Pesto verputzen zu wollen. Fast, konnte mich stoppen. Auch eine Art des Hamsterns, denke ich hinterher. Am Abend drauf habe ich dann Kekse gebacken, damit das Haus wohlig duftet. Kosmetik für die Seele.

Tagsüber gehe ich meinem Tagesgeschäft nach, doch es bebt und arbeitet in mir. Jahrzehntelang entwickelte Sicherheiten und Vorannahmen gerieten und geraten ins Wackeln. In welchem Realitätsloch habe ich gelebt? Sind all die Werte ein Trugschluss gewesen, für die ich mich eingesetzt habe? Hätten wir eher aufrüsten statt abrüsten sollen? Den Kindern Härte statt Achtsamkeit vermitteln sollen? Ich hatte den Gedanken an reale Kriegsgefahr hier in Europa, in unserer Nachbarschaft, verdrängt. Auch Anderen, wie ich höre und lese, ist es so ergangen.

Nun möchte ich Worte finden und schreibe.

Sprache, Kommunikation, Aufrichtigkeit, Bedürfnisse hinter Interessen spüren, Verhandeln und Verträge schließen, das war doch das Pfund, mit dem immer mehr Menschen in der Weltgemeinschaft bedrohliche Kriegsszenarien verhindern wollten. Wir haben Institutionen aufgebaut, Chartas formuliert, Allianzen gebildet.

Sicherlich, es gab immer Krieg in all meinem Lebensjahren auf diesem Planeten. Große und kleine, mir bekannte und weniger bekannte. Und westliche Interessen und Einflüsse sind da nicht zu negieren. Europa erscheint, wenn wir auf diesem Kontinent leben, als ein attraktiver Ort für die meisten. Doch von außen betrachtet hat europäisches Wirtschaftsgebahren so manche große Beschämung, Verwundung und Zerstörung hinterlassen. Trotzdem ist dieser Kontinent so attraktiv, dass Menschen hierhin kommen wollen, um Willkür, Krieg, Verfolgung und wirtschaftlicher Not zu entfliehen. Ich bin keine Politologin, schon gar keine Fachfrau für Militäroperationen, Außenpolitik oder Geopolitik, daher halte ich mich bedeckt mit meinen Analysen. Nur, hier in Europa, hier in Deutschland habe ich – und auch andere, wie es scheint - in der Illusion gelebt, Kriegsbedrohung stünde nicht auf unserer Agenda.

In den Finger geschnitten. Der Frosch ist gekocht.

Kennst du diese Metapher aus der systemischen Denkwelt? Ein Frosch springt natürlich sofort in Sicherheit, setzte ich ihn in heißes Wasser! Klar, lebenswichtiger Reflex! Doch, wenn er langsam – peu à peu – eine Erhöhung der Körpertemperatur erfährt, der arme Wicht, dadurch, dass sein Badewasser langsam aber doch bestimmt zum Kochen gebracht wird, dann … ja, dann bleibt er sitzen. Dafür besitzt er keine Sensoren. Er stirbt. Gekocht.

Ist das unser Schicksal? Mir scheint es fast so. Auf einmal, fast wie im Handumdrehen, befinden wir – Normalos – uns in dieser Kriegsrealität, die sich für BürgerInnen, die mit dem ganz normalen Leben, ihren beruflichen und privaten Herausforderungen beschäftigt waren, schleichend verdichtet und entwickelt hat. Seit mehr als den 23 Jahren Herrschaftszeit von Putin. Uns geht es wie dem gekochten Frosch. Während der autokratische Despot an seinem Plan gebastelt hat.

Was mich zusätzlich beschäftigt als eine, die sich mit dem Wesen des Seins, Denkens, Werdens und Fühlens auseinandersetzt, ist die Frage, wie es kommen kann, dass ein Mann, einer von 7,96 Mrd. Menschen, in diese zentrale Rolle gelangen kann, wie in einem gruseligen Kinoepos. Ein Mann, der nicht nur Missachtung, Gewalt und Erniedrigung seinem eigenen Volk gegenüber entgegenbringt, sondern auch den Menschen im Nachbarstaat Ukraine und all den Anderen auf der Welt. Und über den lockeren Finger zum Atomkoffer verfügt. Getreu den Gesetzen der Gewalteskalation: Ich füge euch Schaden zu, auch wenn ich selbst Schaden daran nehme. Hauptsache, euer Preis ist höher und ich gewinne. Und ich kann meine Macht ausüben und Demokratie bekämpfen. Wie wird mann so? Schaut frau sich Berichterstattungen und Reportagen an, in der die 23 Jahre Putins Herrschaftsausdehnung aufgefächert werden, wird (nochmals) deutlich, hier sind sich reihenweise männliche Herrscher begegnet. Männer, die mit Waffen, Machtausbau, Korruption, Privilegien handeln. Toxisch. Überfrachtete Symbole der Macht und Herrschaft, die mich als Frau das Gruseln lehren. FamilientherapeutInnen werden der Frage schon nachgehen, zumindest unter der Hand, auch wenn der berufliche Ethos der therapeutischen Branche es untersagt, Ferndiagnosen zu Putins geistiger Verfassung zu machen. Wie wurde aus dem kleinen Wladimir dieser Tyrann? Viele Jahre, seit den 80er Jahren, hatte ich ein Plakat in meinen Räumen hängen, auf dem Ibsen zitiert wird:

„Unsere Gesellschaft ist eine maskuline. Erst mit dem Eintritt der Frau kann sie eine humane werden“.

Heute sage ich, erst wenn das weibliche Prinzip des Lebens gleichwürdig Einkehr hält in unsere Institutionen, Staatsapparate, Werte und unser Miteinander, wird diese Welt eine menschliche sein. Weiblich bedeutet dabei nährend, fürsorglich, auf das Werden und Gedeihen zu schauen, das Gemeinsame im Sinn zu haben, sich für das Leben auszusprechen, in seiner Schönheit, Kraft, Klugheit und Größe. Seit dem 18. Jahrhundert steht weibliche Teilhabe auf der Agenda dieser Welt, doch lange noch nicht ist sie Wirklichkeit geworden.

Ich habe nachgeschaut, das Plakat ist noch da, ich werde es wieder aufhängen. More Women for president!

So lautet eine Botschaft, die ganz aktuell in mir klingt. Das gilt hier vor Ort in unserem Land, in den vielen unserer Chefetagen und Parteien, Institutionen. Und in den Organisationen dieser Welt. Auf unsere Außenministerium bin ich gerade sehr stolz, dass sie so deutlich agierte in der Dringlichkeitssitzung der UN-Vollversammlung. Und dazu den so verdienten Applaus erhielt. Sie hat so recht, wir müssen uns entscheiden zwischen Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, zwischen Krieg oder Frieden. Farbe bekennen.

Wie gehen wir mit dieser Weltlage um? Wie können wir diese heilen?

Nicht nur Unheil abfedern oder das Böse ausmerzen. Sondern das System Weltgemeinschaft möglichst in eine gesunde Balance zu bringen, so lautet das große Unterfangen.

Aktuell ist sicherlich vorrangig, weitere Eskalation zu vermeiden, den Menschen in der Ukraine humanitäre Hilfe zu bieten. Auch, Verteidigungsmöglichkeiten zu unterstützen. Und dabei klug in der Gemeinschaft der DemokratInnen und NATO zu sondieren, wie der schmale Grad zwischen Eskalation und Befriedung des Krieges gegangen werden kann. Mit jedem Tag mehr Krieg wird auch die Vernetzung und Verletzlichkeit menschlicher Existenz und ihrer Systeme offengelegt. Werden Strukturen der Energieversorgung z.B. als Ziel militärischer Handlungen gewählt, wandeln sich diese zur Feuerwalze oder gar atomaren Wolke, die keine Landesgrenzen mehr kennen. Und bringen Leid, statt Wärme und Power.

Unüberlegtes darf nicht geschehen. Es gibt zwar Knowhow, aber keinen Masterplan, keine Garantie, welche Entscheidungen was bewirken werden. Die Situation ist hochgradig komplex bis chaotisch, d.h. keineR weiß letzendlich, ob eine Entscheidung, eine Maßnahme nun Eskalation oder gar Deeskalation bewirkt. Und wie schnell oder wie langsam. Denken wir an den gekochten Frosch.

Ich weiß nicht, ob es dir auch so ergeht, in meiner Hilflosigkeit bitte ich auch höhere Kräfte um Unterstützung. Bitte um Einsicht, Zufälle, Kipppunkte, wenn du so willst, um Wunder. Für einen Frieden, für das Leben, für die Entwicklung zum Guten. Und ich versuche mich mit innerem Frieden zu verbinden, nicht mit in die Spirale des Hasses abzudriften.

In dieser Haltung habe ich schon dem verletzten „inneren Kind“ Putins Liebe gesendet, was nicht heißt, Putin zu tolerieren. Ich meditiere und schicke Frieden um den Planeten. Und habe auch im Sinne des hawaiianischen Ho’ oponopono um Verzeihung gebeten für meine Ignoranzen, indirekten Einflüsse auf diese aktuelle Entwicklung. Und natürlich ganz praktisch Geld gespendet.

Gleichzeitig wird in mir Gewissheit immer deutlicher, dass es keinen Weg zurück in den Kalten Krieg geben darf, dass wir unsere Werte des Friedens, der Kooperation und Einsicht nicht verlieren dürfen. Gut, jetzt müssen wir offensichtlich dickere Muskeln der Verteidigung aufbauen, da wir noch um ausreichend (männliche) Macht in dieser Welt wissen, die nur diese Sprache kennen. Doch, wenn irgendwann, hoffentlich mit nicht noch mehr eskalierendem Schaden und Schmerz für die Menschen, insbesondere aktuell in der Ukraine, Ruhepunkte angesteuert werden können, muss es darum gehen, die Welt weiter zu denken. Sich deutlich zu machen und zu verständigen, was es denn heißt, eine – freie – Gesellschaft zu sein, ein Teil dieser Gemeinschaft, sowohl in der Region als auch International. Menschlichkeit vor Macht und Gewinnstreben. Rechtsstaatlichkeit und geltende Verträge vor Willkür und kriegerisxher Wüterei. Das ist nicht einfach, aber unausweichlich. Was steht in unserer jeweiligen Verantwortung? Können wir wirklich Weltfrieden delegieren? Nein, wir sind jeweils ein Teil davon. WOlodymir Selensky sagte 2019 in einer Rede anlässlich seiner Präsidentschaft: JedeR ist Präsident. Da lohnt es sich, drüber nachzudenken.

Lasst uns weiter dranbleiben und die Fragen miteinander beantworten – respektvoll, würdig, konstruktiv. In welcher Welt wollen wir leben? Welche Prinzipien ermöglichen ein gutes Leben für alle? Welches sind aktuelle Wege zum Frieden? Wie wollen wir mit Macht umgehen? Mit Ungleichverteilung des Zuganges dazu? Monetär, kulturell, sozial, politisch? Wann wird diese Welt eine menschliche sein dürfen? Und - wie wollen wir Menschen uns verstehen als Vertreter unserer ART im Umgang mit dem ORGANISMUS Planet? Hieß es wirklich in der Bibel „Macht euch die Welt untertan“? Oder wurde es nur falsch interpretiert und meint vielmehr „Seid ein fürsorglicher Teil des Großen Ganzen?“

Letzteres möchte ich gern unterstützen. Mit meinem gesamten Entsetzen in mir über die nicht gut ausschauende Kriegsszenerie. Die Weltgemeinschaft hat wahrhaftig noch ganz andere Aufgaben, um diesen Planeten den Kindern dieser Welt lebenswert und -tauglich zu überlassen. WIr müssen aufwachen und unsere Selbstverständlichkeiten hinterfragen. Uns neu besinnen und handeln. Sowie aufhören, mit Kriegstreibern Geschäfte zu machen.

Heute ist Freitag, der 4. März 2022. 9 Tage widersetzen sich die Ukrainer in unbeschreiblicher Kraft der Übermacht aus Russland.

KLARA schickt Solidarität zu den Menschen in der Ukraine. Und Einsicht auch den jungen russischen Soldaten. Spenden nicht vergessen.

 

(BR)

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