Selbsthilfe oder die Wurzeln von Toyota
Seit 2009 habe ich mich immer wieder und intensiver mit Lean Management auseinander gesetzt. Klasse finde ich daran, dass so etwas wie ein lernendes System entsteht, eine Lernende Organisation. Und die sehr starke Ausrichtung auf den Wertschöpfungsprozess – Stichwort: Wertstrom –, dadurch entsteht eine Gegengewicht zu einer hierarchieorientierten Sichtweise.
Lean Management entstand bei Toyota in Japan. Warum aber gerade dort? Es gab doch zigtausende andere Unternehmen in unserer Welt. Was machte Toyota so besonders?
Ein wichtiger Punkt war sicher, dass die Ideen von „Training within Industry" (TWI) im Rahmen der Wiederaufbauhilfe der USA nach dem 2. Weltkrieg bei Toyota auf sehr fruchtbaren Boden fielen. Manche halten dies für die Wurzeln des Lean Managements.
Ich denke, man muss noch weiter zurück gehen – Quelle: From Textiles to Automobiles: Mechanical and Organizational Innovation in the Toyoda Enterprises, 1895-1933: Zu Kiichirō Toyoda, der für die Hinwendung zur Automobilproduktion steht, und insbesondere seinen Vater Sakichi Toyoda, der in einer armen Zimmermannsfamilie im ländlichen Japan aufwuchs, selbst Zimmermann lernte, Webstühle baute, viele Patente anmeldete und als Unternehmer sehr aktiv war.
1885 lernte Sakichi Toyoda, damals 18 Jahre alt, im Rahmen einer Abend-Studiengruppe die gerade in Japan beschlossenen Patentgesetze kennen. Er soll sich damals zum Ziel gesetzt haben, über Erfindungen zur Entwicklung von Japan beizutragen. 1891 meldete er dann sein erstes Patent für einen modifizierten handbetriebenen, hölzernen Webstuhl an, der eine um 50 % höhere Produktivität ermöglichte. Dieser war jedoch kein kommerzieller Erfolg. Deswegen entwickelte er dann eine Garn-Wickelmaschine, die ihm sozusagen sein Grundeinkommen sicherte. Aber sein Engagement galt weiterhin den Webstühlen.
Über motorgetriebene (mittels Dampfmaschine) Holz-Webstühle ging die Entwicklung langsam in Richtung Stahl-Webstuhl und schließlich zum vollautomatischen, sich selbst überwachenden Webstuhl bzw. zur Webmaschine. Erstaunlich an dieser Entwicklung ist, welchen Aufwand Sakichi Toyoda trieb, um den Webstuhl immer weiter zu entwickeln: Als er feststellte, dass die Qualität des Webstuhls im realen industriellen Einsatz immer wieder einbrach, baute er eine eigene Weberei auf, die er mit seinen Webstühlen ausrüstete.
Und als er Probleme durch die Garnqualität feststellte, baute er eine eigene Spinnerei. Wegen Problemen mit Gußeisen, baute er eine eigene Gießerei. Schon hier wird deutlich, dass Toyoda einen großen Aufwand trieb, um das ganze System möglichst gut zu verstehen und Kompetenz für das ganze System zu haben. Eines der Grundmuster auch von dem Automobil-Unternehmen Toyota der heutigen Zeit.
Um 1900 tauchten die ersten vollautomatischen Webmaschinen auf dem Weltmarkt auf, allerdings damals noch nicht praxistauglich und mit sehr vielen „Kinderkrankheiten" behaftet. Sakichi Toyota sah darin die Zukunft. Um dieses Ziel zu erreichen, führte er mit Hilfe eines französischen Ingenieurs gegen hausinterne Widerstände und wohl als absoluter Vorreiter in Japan ingenieurwissenschaftliche Produktionskonzepte ein: Austauschbarkeit von Teilen, präzise Messtechnik, Normung, Vorrichtungsbau, Werkzeugmaschinen wie z.B. Drehbänke. Dadurch war höhere Präzision und eine rationellere Montage möglich.
Auch die 2 Grundpfeiler des Toyota Production System (TPS) stammen aus der Zeit von Sakichi Toyoda: Respekt gegenüber Anderen und ständige Verbesserung – Grundlage des Kaizen. Ebenso das 5-Warum-Konzept, sowie Jidōka (und vermutlich auch Genchi Genbutsu) sind Ideen vom Toyota-Gründer Sakichi Toyoda.
Ab 1920 wirkte Kiichirō Toyoda nach seinen Ingenieur-Studium in Tokyo in dem Unternehmen seines Vaters mit und übernahm es langsam. 1924 schließlich wurde die vollautomatische, sich selbst überwachende Webmaschine von Toyota patentiert. Toyota war damit technologisch an der Weltmarktspitze angelangt. 1929 verkaufte Kiichirō Toyoda für einen sehr hohen Betrag die weltweiten Produktions-Lizenzrechte außerhalb Japans und Chinas an das britische Unternehmen Platt Brothers, damals einer der größten Webmaschinenhersteller. Platt Brothers schaffte es jedoch nie, die für die Produktion der Toyota-Webstühle erforderliche Qualität zu erreichen und nutze insofern das Lizenzabkommen nur, um Toyota vom amerikanischen und europäischen Markt fern zu halten.
Kiichirō Toyoda empfand den Markt der Webmaschinen als auf Dauer zu schwierig und nutzte das Geld aus dem Lizenzabkommen, um Toyota als Automobilbauer aufzubauen. Zunächst eigene Motorenentwicklung, dann komplette Prototypen und ab 1936 Serienfertigung von Autos.
Parallel zu dem Aufbau als Automobilhersteller lief die Produktion von Webmaschinen weiter. Dabei war die Nachfrage nach Toyotas Webstuhl ein Vielfaches dessen, was an Webmaschinen produziert wurde. Statt jedoch – marktgerecht – die hohe Nachfrage für eine Produktionsausweitung zu nutzen, blieb die Produktion in etwa konstant. Kiichirō Toyoda sah die Zukunft eben in der Automobilfertigung. Übrigens: Eine Tochtergesellschaft von Toyota produziert auch heute noch High-Tech-Webmaschinen.
Aber noch mal zurück zu den Anfängen bei Sakichi Toyoda: Wie oben geschrieben, wirkte er 1885 an einer Abend-Studiengruppe mit. Nanu, was war das denn? Im ländlichen Japan eine Studiengruppe – ohne Hochschule und mit einem Zimmermannslehrling? Im Museum von Toyota soll es nur ein einziges Buch geben, das von dem Gründer Sakichi Toyoda aufbewahrt wurde: Die japanische Ausgabe von „Self-help" von Samuel Smiles. Und damit kommen wir zu einem neuen, außergewöhnlichen Aspekt der Geschichte.
Samuel Smiles – Smiles ist wirklich sein richtiger Name, kein Pseudonym! –, 1812 in Schottland geboren, studierte Medizin, war schon früh ein politischer Mensch, der sich für Parlamentsreformen einsetzte. Mit Unterstützung durch seine Mutter, die den Haushaltswaren- und Buch-Laden des Vater nach dessen Tod fortführte, konnte er sein Studium fortführen. Er wechselte jedoch ab 1838 zum Journalismus und übernahm die Redaktion einer Wochenzeitung in Leeds. Samuel Smiles war politisch gesehen ein früher Liberaler. Ab 1845 befasste er sich damit, wie die Arbeiterklasse Bildung erfahren kann. Daraus entstand dann sein Buch „Self-Help", das er nach erfolgloser Verlagssuche schließlich 1859 im Selbstverlag heraus brachte.
„Self-Help" war das erste Selbsthilfe-Ratgeber-Buch. Heute leben etliche deutsche Verlage allein von Ratgeber-Literatur zum Selbstmanagement. Auch insofern lohnt sich ein Blick in das Buch von Samuel Smiles.
In dem Buch, das es kostenlos als digitale Version auch in deutsch gibt, beschreibt er viele, viele Geschichten von herausragenden Menschen – ausschließlich Männer? –, die ihren Weg aus extremer Armut zum erfolgreichen Erfinder, Kaufmann, Unternehmer gemacht haben. Wer neugierig ist auf die frühe Zeit der Industrialisierung und des Kapitalismus, der wird hier tolle Funde machen.
Samuel Smiles wollte mit seinem Buch Mut und Hoffnung machen, dass auch einfache Menschen große Erfolge erreichen können. Und trotz Mühsal und Rückschlägen den Weg zum Edelmann gehen können.
In seinem Vorwort zur ersten Ausgabe schreibt Samuel Smiles, wie es zu diesem Buch kam: „Zwei oder drei junge Leute aus den untersten Ständen faßten den Entschluß, an den Winterabenden zusammenzukommen, um sich durch ihre Kenntnisse und Einsichten gegenseitig zu bilden." Mit der Zeit wuchs diese Gruppe. „Als die Zahl der jungen Leute fast bis auf 100 gestiegen war, bemächtigte sich ihrer der ehrgeizige Wunsch, Vorträge zu hören." Und so hielt Samuel Smiles mehrere Vorträge, aus denen dann schließlich das Buch „Self-Help" entstand.
Einige Jahre nach diesen Vorträgen begegnete Samuel Smiles einem der Teilnehmenden, der nun jedoch – dank der Anregungen von Smiles (und der Studiengruppe?) – wohlhabend geworden war und als Arbeitgeber eine Eisengießerei betrieb.
Woher die jungen Leute die Idee für ihre „Mutual Improvement Society" hatten, konnte ich (noch) nicht heraus finden. Aber das Konzept des gegenseitige Unterstützen und Lernen unter Gleichen ist auch heute noch attraktiv. Erfolgsteams arbeiten nach diesem Muster. Auch Virginia Satir, die große Dame der Familien- und systemischen Therapie, hat als Sozialarbeiterin oft auf gegenseitige Selbsthilfe gesetzt. Und manche Aspekte von Kaizen oder KVP nutzen ebenso gegenseitigen Austausch und Unterstützung, um auch dann noch besser zu werden, wenn man schon ganz an der Spitze ist.
„Self-Help" war ein Bestseller: Allein im Erscheinungsjahr 1859 wurden 20.000 Exemplare verkauft. Und es wurde in viele Sprachen übersetzt. 1877 erschien es auf japanisch. Es war in Japan das erste Buch in westlicher Buchbindung.
Zurück zu Sakichi Toyoda: Ich denke, viele der persönlichen Merkmale des Toyota-Gründers findet man in Samuel Smiles Buch. Wahrscheinlich fand Sakichi Toyoda dort seine Vorbilder und Handlungsmaximen. Den Mut, die Zuversicht und vor allem die Ausdauer für seinen Weg vom Zimmermann zum Erfinder und Unternehmer. Das Vertrauen in sich selbst und das Lernen aus der eigenen Erfahrung und Beobachtung. Und der anregende Gedankenaustausch mit Anderen. All das findet man schon in „Self-Help". In einem Buch, das mehr als 150 Jahre alt ist!