Die Messung des Luftwiderstandes

von Rainer Pivit

veröffentlicht in Radfahren 2/1990, S. 47 - 49

(Nummer in Klammern verweisen auf die dazugehörige Literaturliste)

gleichzeitig wurde von mir im gleichen "Radfahren"-Heft veröffentlicht:

 

Am bekanntesten - vor allem aus der Automobiltechnik - ist die Bestimmung des Luftwiderstandes durch Messungen im Windkanal. So wurden auch Fahrräder im Windkanal gemessen, meist in Zusammenhang mit irgendwelchen Rekord- oder Olympia-Proiekten. Die extrem hohen Investitionen für einen guten Windkanal und seine Meßtechnik führen zu hohen Benutzungskosten. Im Windkanal wurden bisher nahezu ausschließlich Rennräder gemessen, nie Gebrauchsfahrräder. Die Messungen sind für den "Testfahrer" nicht sehr angehm: Bei einer Lautstärke von über 100 dB(A) wird ihm heiße Luft mit 50 km/h entgegen geblasen. Der Energieverbrauch eines Windkanals ist gewaltig und steht in einem absurden Verhältnis zu dem minimalen Energiebedarf eines Fahrrades.

Bis auf ganz wenige Ausnahmen (4) drehen sich bei den Messungen im Windkanal die Laufräder nicht. Dies führt natürlich zu Fehlern. Problematisch ist auch, daß viele der benutzten Windkanäle vermutlich geschlossene Meßstrecken haben. Dies erfordert Korrekturen an dem Meßergebnis, um sie auf die Realität des Radfahrers auf der Straße oder der Bahn übertragen zu können. Da bei den verschiedenen Windkanalmessungen die Ergebnisse für sehr ähnliche Fahrräder (konventionelles Rennrad) um etwa 20 % schwanken, wurde von einer absoluten Angabe der Luftwiderstandsfläche cwA in der Literaturübersicht weitgehend abgesehen.

Die Unterschiede zwischen den einzelnen "Testfahrern" reichen zur Erklärung dieser Differenz keinesfalls aus. Etlichen Forschern scheint dieses Problem wohl auch bekannt zu sein - obwohl es nie offen angesprochen wird. Sie verzichten auf eine absolute Angabe von cwA und legen statt dessen nur die Luftwiderstandskraft (in lbf oder "grams") dar. Ohne eine dazugehörige Angabe der exakten Geschwindigkeit und der Luftdichte lassen sich nur Daten der exakt gleichen Meßmethode miteinander vergleichen.

Die Ausrollmethode

Es gibt noch andere Methoden zur Bestimmung des Luftwiderstandes eines Fahrrades. Diese sind in der Regel erheblich preiswerter. Oft angewendet wird das Ausrollen. Über eine möglichst ebene und völlig windstille Meßstrecke läßt man das Fahrrad ohne Antrieb ausrollen. Die Abnahme der Geschwindigkeit über der Meßstrecke wird gemessen. Aus diesen, bei möglichst verschiedenen Geschwindigkeiten gemessenen Daten wird dann der Rollwiderstand und der Luftwiderstand errechnet.

Es gibt bei dieser Methode sehr viele Möglichkeiten, unbewußt Fehler in die Messung einzubauen. So ist auch die Aussagekraft mancher der veröffentlichten Messungen, die mit dieser Methode erzielt wurden, schwer einzuordnen, da nicht mitgeteilt wird, wie sauber gearbeitet wurde. Die Simulation des realen Fahrrades bei der Ausrollmethode ist zwar nahezu perfekt, da aber wegen der unbedingten Voraussetzung der Windstille meist in geschlossen Räumen gemessen wird, bekommt man auch nur die Ergebnisse für diese Meßstrecke. Der Bodenbelag kann sehr viel günstiger sein als normaler Straßenbelag und auch durch die Wände der Meßstrecke kann es starke Unterschiede zu der Realität draußen geben. Von den anderen praktizierten Methoden (20, 21, 24) hat nur noch das Bergabrollen eine gewisse Popularität. Man läßt das Fahrzeug ein konstantes, sehr genau bekanntes Gefälle herabrollen und registriert die schließlich erreichte konstante Geschwindigkeit. Mit einer Annahme für den Rollwiderstand läßt sich aus der konstanten Bergabgeschwindigkeit, dem Gefälle, der Masse und der Luftdichte die Luftwiderstandsfläche bestimmen. Die Meßmethode ist nicht genau, aber dafür sehr realitätsnah.

Messungen der Herzfrequenz

Für den, der selbst mit aerodynamischen Veränderungen experimentieren will, gibt es noch eine andere, recht preiswerte Methode, die nur relative Aussagen, aber keine absoluten Werte liefert (9): Die Herzfrequenz ist bei konstanten Randbedingungen in sehr guter Näherung eine Funktion der aufgebrachten Leistung des Fahrers. Moderne Herzfrequenzmesser mit Brustelektroden können (teilweise) auf einen Herzschlag pro Minute genau messen.

Der Fahrer kann also mit dem Herzfrequenzmonitor seine Leistung recht gut konstant halten und dann bei einem Zeitfahren, das mit verschiedener Ausrüstung wiederholt wird, eventuelle Unterschiede an den verschiedenen Fahrzeiten erkennen. Die Methode mit dem Herzfrequenzmonitor eignet sich sogar zur Beurteilung verschiedener Antriebssysteme (z.B. rundes Kettenblatt gegen einen die Kurbelwinkelgeschwindigkeit modulierenden Antrieb).

Durch Verwendung von Hinterradnaben, die das Antriebsdrehmoment messen - wie sie von Look und demnächst Balboa Instruments (The Power Pacer) produziert werden - läßt sich diese Methode noch etwas vereinfachen.

ATB contra Aero-Rennrad

Für "Radfahren" wurden von der Arbeitsgruppe Fahrradforschung der Universität Oldenburg für zwei Fahrräder die Fahrwiderstände bestimmt. Die Messung erfolgte mit der Ausrollmethode. Für die Messung der Geschwindigkeit über der Meßstrecke wurde auf den Meßobjekten ein Taschencomputer mitgeführt, der als speichernder Zeitmesser zur Messung der Dauer der Radumdrehungen diente (2). Die Meßapparatur erhöht im ungünstigsten Fall (ungestörte Anströmung) die Luftwiderstandsfläche cwA um 0,005 m2. Eine entsprechende Korrektur des Meßergebnisses ist nicht vorgesehen. Die Auswertung arbeitet mit Korrekturen zum Ausgleich von Unregelmäßigkeiten in der Meßstrecke.

Die Meßstrecke ist ein etwa 30 m langer Abschnitt eines geraden Flures im Gebäude der Universität. Die Oberfläche besteht aus einem PVC-Belag auf einer hochbelastbaren Betondecke. Der Querschnitt des Ganges (Breite x Höhe) beträgt 4,8 m2.

Die Redaktion von "Radfahren" wünschte die Messung eines ATB mit 37 mm breiter 28"-Bereifung, ausgerüstet als Stadt-ATB, sowie einer Zeitfahrmaschine.

ATB fontal  ATB seitlich

Das von uns gemessene ATB wurde von der VSF-Fahrradmanufaktur, Bremen, (her)gestellt. Als Bereifung waren Vredestein Snow + Rain 37-622 montiert. Gemessen wurde bei einem Reifenluftdruck von 350 kPa (3,5 bar) vorne und 400 kPa (4 bar) hinten. Weitere Einzelheiten sowie die Position und Kleidung des Testfahrers sind auf den Abbildungen erkennbar.

Aero frontal  Aero seitlich

Als Zeitfahrmaschine wurde uns ein von Lutz, Böblingen, produziertes Rennrad vom Fachhandel zur Verfügung gestellt. Der Rahmen bestand aus elliptischen Vitus-Stahlrohren. Die Züge waren innenverlegt. Das Fahrrad hatte einen Hörnchen-Lenker. Als Laufrad kam hinten eine flache Scheibe von Ambrosio mit einem mit Klebeband montierten Schlauchreifen Vittora Formular 1 (gemessene Breite 23 mm) bei 700 kPa (7 bar) zum Einsatz. Vorne war ein Aero-Speichen-Laufrad vorgesehen. Uns stand dann aber nur eines mit Aero-Felge Wolber X Profil, 36 Stück 3-fach gekreuzten konventionellen Speichen -eine kuriose (und unsinnige) Kombination - und einem IRC Roadlite EX 25-622 Reifen (reale Breite 22 mm) bei 700 kPa (7 bar) zur Verfügung. Der Fahrer (1,84 m, 72,0 kg) wurde auch etwas herausgeputzt: Bell Stratos Helm über dem Wuschelkopf und lange, hautenge Hose (statt einer Beinrasur). Das Trikot war leider nicht optimal, etwas zu groß. Und auch die Schuhe paßten nicht so recht zum Fahrrad. Die Sitzposition war für ein Zeitfahren nicht optimal: Die Sattelstütze war zu kurz und der Vorbau zu hoch.

Luftwiderstand des ATB etwa doppelt so hoch

In der Auswertung wird an die mehr als 500 Meßpunkte aus der Geschwindigkeit und der dabei gemessenen Fahrwiderstandskraft eine Kurve, die eine geschwindigkeitskonstante Rollwiderstandskraft und eine mit dem Quadrat der Geschwindigkeit ansteigende Luftwiderstandskraft annimmt, mittels der Methode der kleinsten Quadrate angepaßt.

Auswertung ATB  Auswertung Aero

Für das ATB wurde eine Luftwiderstandsfläche cwA von 0,79 m2 auf unserer Meßstrecke ermittelt. Die Zeitfahrmaschine kam auf einen Wert von 0,39 m2. Der Meßfehler betrug etwa 1 bzw. 2 %. Der Luftwiderstand des ATB ist also etwa doppelt so hoch wie der der Zeitfahrmaschine.

Diese Werte gelten streng nur für unsere Meßstrecke; sie sind nicht direkt auf die Realität draußen übertragbar. Das Fahrrad mit Fahrer versperrt den Querschnitt der Meßstrecke. Dadurch kommt es - wie auch bei Messungen im Windkanal mit geschlossener Meßstrecke -zu einem höheren Wert für den Luftwiderstand als im Freifeld. Da bisher noch keine direkten Vergleichsmessungen mit dem gleichen Fahrrad zwischen der Meßstrecke im Gebäude und draußen bei absoluter Windstille gemacht wurden, kann kein durch Messungen fundierter Korrekturwert für die obigen Meßergebnisse angegeben werden. Er läßt sich zur Zeit nur anhand anderer, veröffentlichter Meßwerte zum Beispiel aus Windkanalmessungen und Ausrollmessungen abschätzen.

Demnach dürfte der zur Übertragung unserer Meßergebnisse auf die Straße notwendige Korrekturfaktor etwa 0,9 betragen. Damit kommt das ATB auf eine Luftwiderstandsfläche von 0,71 m2 und die Zeitfahrmaschine auf 0,35 m2. Zum Vergleich: Ein Mittelklasse-Pkw hat einen Wert von etwa 0,6 m2. Daß sich da die Fahrradindustrie nicht schämt ...

Schlauchreifen bringen nicht immer Vorteile

Der Rollwiderstandsbeiwert cr des ATB betrug auf dem Meßstreckenbelag trotz des niedrigen Reifendruckes überraschend nur 0,0032. Der Rollwiderstandsbeiwert der Zeitfahrmaschine lag mit 0,0035 geringfügig schlechter. Der Meßfehler betrug gut 4 %. Der schlechte Wert für die Zeitfahrmaschine war nicht so überraschend für uns, da durch Messungen von Kyle (12) bekannt ist, daß sich der Montagezustand von Schlauchreifen sehr stark auf den Rollwiderstand auswirkt. Schlauchreifen bringen nur Vorteile, wenn sie auf eine genau zu dem Reifen passenden Felge perfekt mit Kitt geklebt werden. Schwere Baumwoll-Schlauchreifen zeigen gegenüber modernen Hochdruckdrahtreifen keine Vorteile.

Es wird oftmals angenommen, daß der Rollwiderstand auf rauhem Asphalt etwa doppelt so hoch ist wie auf einem Kunststoffbelag.