Mein Fahrrad

Mein Fahrrad

von Rainer Pivit

abgedruckt in Pro Velo, Nr. 57 (2. Quartal 1999), S. 15 - 19

 

Dies ist meine Geschichte von einem sehr ungewöhnlichen Fahrrad und seinen Erbauern. Ein Fahrrad, das auch 10 Jahre nach den ersten Ideen noch nicht in seinen Fahreigenschaften übertroffen wurde. Ich erzähle diese Geschichte, damit die Vision von einem komfortablen und praktischen Alltagsfahrrad nicht in Vergessenheit gerät.

1985 präsentierten wir, die Arbeitsgruppe Fahrradforschung der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg, das OLF (Oldenburger Leichtfahrzeug), ein Liegedreirad, in Rohfassung ohne Karosserie. Fahrzeuge wie das OLF waren damals als Alternative zwischen Auto und Fahrrad gedacht. Die praktische Erprobung ließ uns erfahren, daß der OLF für die realen Verkehrsverhältnisse eher unpraktisch ist: nicht genügend Power, um im Autoverkehr mitzuschwimmen, und wir fühlten uns nicht wohl in der niedrigen Sitzposition. Völlig überzeugend war jedoch der Ansatz, Pkw-Fahrwerktechnik beim OLF einzusetzen. Die weiche Federung war ein riesiger Fortschritt gegenüber normalen Fahrrädern beziehungsweise Liegerädern.

Der OLF

Aus dem OLF ergaben sich zwei mögliche Entwicklungspfade: der MOLF (motorisierter OLF) und der ZWOLF (zweirädrige OLF). Der MOLF mit unterstützendem Elektromotor (von etwa 2 kW Spitzenleistung) für Beschleunigung, Steigungen und Geschwindigkeiten bis 70 km/h wurde nie genauer konstruiert oder gar gebaut. Es wäre für unsere kleine Arbeitsgruppe nicht möglich gewesen, dies Projekt zu realisieren. Und der MOLF lag auch ziemlich nahe bei den damaligen Solarmobilen (mit Solarzellen zu Hause auf der Garage).

Der ZWOLF, ein Liegerad mit pkw-ähnlicher Federung, war aus Sicht der Ausbildung von Physikern - die Uni in Oldenburg bildete keine Ingenieure aus - nicht gerade spannend. So wurde es zu einem privaten Projekt von Martin Glup und mir. Wir beide entschieden uns nach ersten Skizzen, den ZWOLF-Gedanken eines Liegerades fallen zu lassen. Wir wollten ein Fahrrad, daß jeder Fahrradfahrer sofort ohne große Umgewöhnung sehr gut beherrscht. Also die konventionelle Sitzposition eines Reiserades. Aber eben mit exzellenter Federung und besseren Möglichkeiten, Gepäck zu transportieren.

Für das Lastenheft ergaben sich dann folgende Anforderungen:

  • weiche Federung (1,6 Hz Eigenfrequenz, Federweg größer 12 cm)
  • progressive Federkennlinie durch geschäumtes Elastomer als Feder
  • darauf abgestimmte hydraulische Dämpfung
  • einheitliche Federdämpfer vorne und hinten
  • Federung leicht anpaßbar an unterschiedliche Gewichte
  • kleine, rollwiderstandsoptimierte Hochdruckbereifung
  • breite, stabile Gepäckträgerfläche
  • Durchstieg durch den Rahmen beim Aufsteigen
  • normale Lenk-, Fahr- und Bremseigenschaften
  • preisgünstig in der Fertigung (Ziel: < 2.000 DM [das war im Jahr 1987]).

Moulton-Fahrrad der 60er-Jahre

Als ein Vorbild diente das Moulton-Fahrrad, insbesondere das der 60er Jahre: kleine Laufräder mit Hochdruckbereifung und Federung, breiter Gepäckträger über den Laufrädern, einfacher Zentralrohrrahmen mit tiefem Durchstieg. Und das alles einfach zu fertigen und damit preiswert. Leider wurde die Produktion dieses wirklich genialen Fahrrades 1974 eingestellt. Das Moulton-Fahrrad der 80er (AM 7 usw.) mit seinem Gitterrohrrahmen war immer ein Hochpreisprodukt. Meine persönlichen Erfahrungen mit meinem eigenen AM 7 waren sehr zwiespältig. Ein tolles Fahrrad, aber in vielen Punkten für mich noch unbefriedigend: Hinterradfederung recht hart, Vorderradfederung mit schlechter Reibungs-Dämpfung, harten Endanschlägen und zu starkem Bremstauchen, zu nervöses Lenkverhalten, instabiler hinterer Gepäckträger. Die 17"-Moulton-Reifen waren viel zu empfindlich gegen Fremdkörper, zu glitschig bei Nässe, viel zu schwierig bei Spurrillen und Kanten. Und auf einer Radreise Ersatz zu bekommen wäre unmöglich gewesen.

Moulton-Fahrrad der 80er-Jahre

Daß wir kleine Laufräder nehmen wollten, war uns klar, um auch bei großen Federwegen tiefere Gepäckflächen zu bekommen als mit normalen Fahrrädern. Aber welche Reifen? Die Moulton-Reifen wegen meiner schlechten Erfahrungen sicher nicht. Wir wollten eine ETRTO-Größe, die in vielen Fahrradgeschäften der westlichen Welt am Lager ist. Also 20"-BMX? Gibt es da Hochdruckbereifung? Wir fanden bei Avocet einen Slick-Reifen, der auch mit hohem Luftdruck für Solarmobile eingesetzt wurde. Die Bestellung beim deutschen Importeur verlief allerdings im Sande und auch Nachfragen brachten keinen Erfolg.

In anderem Zusammenhang ergab sich damals ein Kontakt zu Continental in Korbach. Am Rande wurde auch das Problem der kleinen Hochdruckreifen u.a. für Liegeräder angesprochen. Und zu unserer Überraschung hatte Conti eine Lösung: eine Sonderproduktion von einem Kinderradreifen in 16" aus rollwiderstandsoptimierten Materialien für Solarmobile der Tour de Sol, der auch hohem Druck standhält. So kamen wir zu unseren 47-305 Reifen.

Und so bauten wir um diese Reifen herum unser Fahrrad! Wir wühlten in der Fachliteratur zu Pkw- und Motorradfahrwerken und entschieden uns für eine einfache Hinterradschwinge und eine geschobene Langschwinge in der vorderen Gabel ähnlich wie früher bei BMW Motorrädern. Wir wollten nämlich große Federwege (12 cm und mehr), kein Bremstauchen und kein Stick-Slip wie bei Telegabeln.

Über die geplante Massenverteilung des Fahrrades und der gewünschten Eigenfrequenz der Federung konnten wir die Federraten für einen ganzen Bereich von Beladungszuständen (leichte Frau ohne Gepäck bis schwerer Mann mit Gepäck) berechnen.

Beim Liegedreirad OLF hatten wir ausschließlich auf die Materialdämpfung des als Federungsmaterial verwendeten geschäumten Polyurethan gesetzt. Dies war akzeptabel, da der Schwerpunkt sehr tief lag und uns das Trampeln der Räder auf sehr schlechten Wegen nicht so störte. Für ein Zweirad brauchten wir aber mehr Dämpfung. Aber keine Reibungsdämpfung wie beim Moulton-Fahrrad! Wir wollten Pkw-Komfort! Also berechneten wir nach Pkw-Auslegungskriterien die hydraulischen Dämpfer. Und wir knüpften Kontakt zu Stabilus. Die Firma wies uns darauf hin, daß ein so schwacher Dämpfer, wie wir ihn errechnet hatten, hydraulisch nicht möglich sei. Also änderten wir unsere Konstruktion und ließen Feder und Dämpfer nicht direkt am Rad, sondern nach innen versetzt - und somit über eine Hebelübersetzung - an den Schwingen angreifen. Nebenbei gewannen wir dadurch die Möglichkeit, durch Verstellen des Angriffspunktes des Federdämpfers die Federung optimal auf verschiedene Beladungszustände anzupassen. Bei der vorderen Schwinge brauchten wir dafür eine kleine Hilfsgabel, die die Schwinge mit dem Federdämpfer verband. Dies ergab eine für alle Seiten akzeptables Ergebnis. Und Stabilus fertigte uns spezielle hydraulische Dämpfer extra für unser Fahrrad!

Diese Dämpfer kombinierten wir direkt mit Federn aus Cellasto (von Elastogran), einem geschäumten Polyurethan-Material. Angenehm an diesem Material ist vor allem die am Ende stark progressive Federkennlinie, die uns zusätzliche Endanschläge ersparte. Geschäumtes Polyurethan wirkt durch seine Bläschen wie eine Luftfeder. Die Materialdämpfung ist recht gering. Bei unserem Fahrrad liefert die Materialdämpfung der Cellasto-Feder nur etwa 10% der Gesamtdämpfung.

Als Material für den Prototypen-Rahmen wählten wir Alu-Vierkantrohre. Die Verbindungen wurden weitgehend geklebt und genietet, eine Technik, die sich bei uns schon vorher beim Bau von Fahrradanhängern sehr bewährt hat. Dieses Verfahren ist recht einfach und schnell, ideal für Prototypen. Als Vorrichtung zum Ausrichten reicht ein stabiler Tisch. Im Gegensatz zum Schweißen oder Löten verzieht sich beim Kleben und Nieten nichts und das sonst mühselige Richten entfällt völlig.

Konstruiert wurde einfach am Tisch mit Papier und Bleistift. Fahrradteile wurden gekauft. Gleitbuchsen (Permaglide von INA) für die Schwingenlager beschafft. Zur Vereinfachung wurde das Tretlager als ein einfaches Patronenlager eingeschrumpft - die übliche BSA-Tretlageraufnahme aus der Steinzeit des Fahrradbaus war uns zu umständlich.

Schließlich nach etlichen Stunden an Fräse und Drehbank und kleiner Hilfestellung durch die Werkstatt der Uni beim Schweißen einiger weniger Stellen des Alu-Rahmens war das Fahrrad fertig. Auf zur Probefahrt!

Unser Traum war fahrbar geworden. Die Federung war super. Und dabei kein Bremstauchen. Durch den hohen Lagerungspunkt der hinteren Schwinge gab es auch kein Einsacken beim kräftigen Beschleunigen. Zwar gab es eine Rückwirkung der Federung beim Durchfahren von Unebenheiten, aber an die leichte Fußmassage auf Kopfsteinpflastern konnte man sich gewöhnen. Nur bei langen Bodenwellen mit großen Federhüben blieb dies doch etwas merkwürdig. Ja, und die Gabel sah sicher auch etwas merkwürdig aus. Aber es fuhr sich wirklich toll.

Ja, bis ... Bis irgendwann leider schlagartig die vordere Gabel (während einer Bremsung?) kollabierte. Ich fand mich auf dem Boden wieder - mit einigen Schürfwunden und ziemlich durcheinander. Die nächsten Tage durfte ich das schöne, sehr sonnige Wetter im Krankenhausbett genießen. Leider passierte dieser Unfall bevor das fertige Fahrrad im Bild festgehalten hatten. Was war falsch gelaufen? Den Rahmen, den Gabelkopf und die Schwingen hatten wir vorher rechnerisch auf Festigkeit überprüft. Aber die Hilfsgabel hatten wir übersehen. Sie war unterdimensioniert! Und es gab einen gravierenden Fertigungsfehler am Gabelkopf.

2. Prototypen-Generation

Nun gut, aus Fehlern lernen wir. Und so wurde einige Zeit später eine neue Gabel für das Fahrrad gebaut - der Rahmen war unbeschädigt. Diesmal griff der Federdämpfer einseitig direkt zwischen vorderer Schwinge und Gabel an: Mechanisch solide. Und Tests mit anderen Fahrrädern hatten gezeigt, daß die Beeinträchtigung der Lenkeigenschaft durch die asymmetrische Massenverteilung vielleicht noch okay sein könnte. In der Fahrerprobung zeigten sich die gleichen guten Federungseigenschaften. Die Lenkeigenschaften waren sehr gut beherrschbar, aber es blieb ein schwammiges Gefühl.

Prototyp Gerritsen & Meijers

So richtig überzeugt waren wir von diesem Fahrrad nicht. Einige Zeit später erprobten es Marinus Meijers und Marten Gerritsen aus Groningen. Sie ersetzen die Alu-Gabel durch eine steifere Stahlgabel. Dies brachte eine Verbesserung der Lenkeigenschaften, aber die leichte Asymmetrie im Handling blieb. Die beiden Niederländer verfolgten die Idee weiter und so wurde über die Jahre daraus der Radical Cityflitzer, der in Kleinserie gefertigt wird.

Martin Glup und ich aber machten nach einer Pause einen radikalen Neuanfang. Die geschobene Schwinge gefiel uns, aber die Asymmetrie im Gabelsystem gefiel uns nicht. Aber wo sonst mit dem Federdämpfer hin? Vor dem Steuerkopfrohr, wie bei dem ersten Prototyp mit der Hilfsgabel, war auch nicht so toll, da wir diesen Platz lieber für Gepäck haben wollten. Dann kam die Idee: Warum eigentlich das Vorderrad im Gabelsystem federn? Warum nicht umgekehrt - wie beim Auto - die Federung in das Rahmensystem integrieren und daran dann das Gabelsystem anbringen. Motorräder mit Achsschenkellenkung wurden schon gebaut, aber der begrenzte Lenkeinschlag wäre für unser Fahrrad nicht akzeptabel. Also bleiben wir doch lieber bei der starren Fahrradgabel, aber federten dafür die Anbindung dieser am Rahmen ab. So entstand die in unseren Augen ziemlich revolutionäre Idee der rahmenseitig geschobenen Vorderradschwinge mit starrer Fahrradgabel.

Aber wie verbindet man jetzt die Gabel mit dem Lenker? Recht schnell kamen wir dann zu dem Gestänge, wie es auch später gebaut wurde. Eleganter wäre natürlich eine hydraulische Lenkungsbetätigung, aber Kosten und Sicherheit - redundante Auslegung notwendig? - sprachen dagegen. Andere Gelenksysteme zur direkten Verbindung von Lenkachse oben am Lenker zur Lenkachse der Fahrradgabel wurden durchdacht, waren aber auch nicht einfacher. Die indirekte Lenkung über das Gestänge hat nebenbei den Vorteil, daß dadurch endlich die Position des Lenker unabhängig ist von Lenkgeometrie und Radstand wurde.

3. Prototypen-Generation

Voller Enthusiasmus machten wir uns an den PC, um erstmals auch per CAD (AutoCAD) die Konstruktion auszuarbeiten. Am Rechner konnten wir besser und genauer als bisher die Bewegungsräume der Schwingen berücksichtigen und um jeden Millimeter feilschen. Schließlich war das neue Fahrrad fertig und fahrbereit. Das Konzept konnte auch in der Realität überzeugen. Ein solides, stabiles Fahrgefühl. Die Federung höchstens geringfügig schlechter als beim Vorgänger durch die jetzt höhere ungefederte Masse. Ein leichtes Bremstauchen wurde sogar als angenehmer als der vorherige vollständige Bremsmomentenausgleich empfunden.

Wegen des Gestänges hatte wir die Drehachse des Lenkers flacher gestellt als bei normalen Fahrrädern. Dies erwies sich als nicht so günstig. Das einhändige Fahren wurde dadurch etwas ungewohnt gegenüber normalen Fahrrädern. Aber ansonsten ein Volltreffer.

Nach einigen Monaten Erprobung buchte ich endlich meinen lange geplanten Trip nach Neuseeland. Martin und ich entschlossen uns, bis dahin noch zwei Nachfolgemodelle dieses Fahrrades zu bauen. Für jeden eins. Und ich wollte mit meinem dann für 3 Monate durch Neuseeland.

Bei der Konstruktion des neuen Modells verbesserten wir den Drehwinkel des Lenkers und setzen das hintere Schwingenlager tiefer. Dies ergab kompaktere hintere Ausfallenden. Und wir setzten diesmal auf konventionelle Cantilever-Bremsen bzw. eine U-Brake statt der bei den vorhergehenden Modellen nicht immer überzeugenden Hydraulikbremsen. Wir beiden bevorzugten das nicht-runde BioPace Kettenblatt gegenüber runden an unseren normalen Fahrrädern. Also konstruierten wir auch gleich ein passendes, für dieses Fahrrad genau abgestimmtes BioPace Kettenblatt mit 72 Zähnen. Eine echte Herausforderung für meine CAD-Fähigkeiten. Die Uni-Werkstatt hatte ihren Spaß daran, endlich mal was Handfestes mit ihrer CNC-Fräse fertigen zu können und dabei nicht alle Daten per Hand eintippen zu müssen.

4. Prototypen-Generation in Neuseeland

Mein Fahrrad wurde wenige Tage vorm Abflug fertig. Als Gepäckträger wurde ein einfacher Rahmen aus kleineren Alu-Rohren auf das zentrale Gepäckträgerrohr geklemmt. Er konnte so für den Flug hochkant gestellt werden und störte nicht. Auf den Gepäckträger kam ein großer 80-Liter-Rucksack. Vorne hatte ich eine Lenkertasche fest am Rahmen montiert für meine Fotoausrüstung.

Das Fahrrad hat die Tour hervorragend gemeistert. Durch dies Fahrrad entstanden viele Kontakte zu Einheimischen und anderen Touristen. Die Federungseigenschaften waren schwer beladen noch besser als sie es ohnehin schon waren. Über Verkehrsberuhigungsschwellen konnte ich im flotten Tempo im Sattel sitzend hinweggleiten, während sie für Kleinwagen britischer Konstruktion bei gleichen Tempo zu Sprungschanzen wurden und die Insassen entsprechend durchgeschüttelt wurden. Bergab verheizte ich Mountain-Bikes, da mein Fahrrad auch bei schlechten Straßen satt auf der Straße lag und auch das Gepäck keinerlei Probleme machte.

Einmal vergaß ich mein Gepäck auf dem Träger festzuzurren - der Rucksack lag also nur lose auf dem Rahmen und auf ihm noch mein Reservereifen und der Proviantbeutel. Ich merkte es erst bei der nächsten Pause. Nichts passiert! Nichts verrutscht oder gewackelt!

Die 47 mm breiten Reifen bewährten sich insbesondere, wenn ich mal vor einem Schaftransport bei vollem Tempo ins Gras neben der Straße fliehen mußte. Mit jeden anderen Fahrrad hätte ich dabei ernste Probleme gehabt oder ich hätte zumindest aus dem Sattel gehen müssen. Es ist immer wieder verblüffend, wieviel mehr an Fahrsicherheit dies Fahrrad mit seiner weichen, aber gedämpften Federung und den etwas breiteren Hochdruckreifen bietet.

Gab es keine Probleme? Naja, ein paar Kleinigkeiten schon. Eine Schraube des Gepäckträgers war während des Fluges abhanden gekommen. Die Suche nach einer passenden metrischen Schraube in Auckland kostete mich fast einen Tag - der Gepäckträger hielt aber auch ohne sie. Und nach längerer Fahrt über Kies bei hohem Luftdruck gab es eine Ablösung der Lauffläche des Reifens von der Karkasse. Einmal eine gelockerte Schraube im Lenkgestänge. Einmal mußte ich die Hinterrad-Kassettennabe nachstellen. Und zweimal gab es einen Platten durch Glas bzw. Dorne. Ja, und am Ende war eine Schweißstelle an den Laschen der vorderen Schwinge leicht eingerissen. Und der ganze Alu-Rahmen war von der salzigen Luft der Westküste etwas angelaufen. Ja, und die Übersetzung (72 zu 13 bis 30, 7-fach) war doch ein wenig zu groß, so daß ich öfters die Steigungen geschoben haben.

Sehr günstig war, daß ich nicht 5 bis 6 Gepäcktaschen hatte, wie der normale Reiseradler, sondern nur einen großen Rucksack, mit dem ich auch Wandern konnte, und eine Lenkertasche. Wirklich sehr viel einfacher und angenehmer beim Transport mit Bahn, Bus oder Flugzeug.

Dieser Trip nach Neuseeland war Anfang 1990. In letzter Zeit mußte ich den Rahmen etwas flicken, da sich doch langsam Ermüdungsrisse im Sitzrohr zeigten. Ansonsten war das Fahrrad immer mein treuer Begleiter.

Für Mountainbiker sind Schwingenlager anscheinend immer wieder ein Thema für Ärger und Wartungsarbeiten. Die nach Herstellerangaben ausgelegten Schwingenlager meines Fahrrades wurden nie gewartet und haben auch heute genausowenig Spiel wie im Neuzustand.

4. Prototypen-Generation mit Kiste

Auf dem hinteren Gepäckträger ist fest eine Kunststoffkiste befestigt, die abschließbar ist. Hier drin ist ständig Regenzeug, Flickzeug (äußerst selten gebraucht) und der Akku für die Lichtanlage. Auch vorne habe ich (statt der rahmenfesten Lenkertasche) eine Kunststoffkiste als zusätzliches Gepäckvolumen angebracht. Diese Kisten haben sich im Alltag außerordentlich gut bewährt. Sie sind einfach praktisch und groß genug für die täglichen Anforderungen.

Bei dem zweiten Fahrrad dieser Bauart, das Martin Glup auch heute noch fährt, gab es nur ein kleines Problem am Dämpfer durch einen Montagefehler. Ansonsten: Es läuft und läuft und läuft und läuft.....

Ursprünglich hatten wir beide geplant, das Fahrrad so zu entwickeln, daß es in Serie gehen kann. Wahrscheinlich wird man in Serie wohl kaum Alu-Rahmen kleben und nieten. Und ob Kunden so viel Mut haben zu so einem ungewohnten Design? Tja, wir beide haben bisher keine Serienproduktion in Angriff genommen, der Weg bis dahin ist noch ziemlich weit. Wir wollten auch gerne einen Nachfolger bauen von unserem Fahrrad, der zusätzlich einfach faltbar ist. Aber wir fanden lange Zeit keine überzeugende Lösung dafür. Und so ist unser Engagement eingeschlafen. Martin fährt zwar noch viel Fahrrad, aber beruflich ist er in einer anderen Branche gelandet.

Und ich? Ja, ich bin zunächst auch beruflich beim Fahrrad geblieben und war ein paar Jahre bei der Fahrradmanufaktur in Bremen. Angeregt durch mein Fahrrad entstand dort das Forschungs- und Entwicklungsprojekt "Stadtfahrrad". Basierend auf meiner Idee für das Fahrwerk wurde ein Fahrrad entwickelt, bei dem dem Design mehr Beachtung geschenkt wurde.

Designstudien führten zur 20"-Bereifung. Passende 20"-Hochdruck-Bereifung mittlerer Breite wurden von Schwalbe und Vredestein entwickelt.

Die Rahmenkonstruktion wurde sternförmig mit einem zentralen Bereich angelegt. Der Zentralbereich sollte aus Magnesium-Guß bestehen. Entstanden war die Idee dazu aus den Rahmenkonstruktionen von Bridgestone, wo Rohre umgossen wurden - statt in Muffen verlötet zu werden.

Der integrierte Gepäckträger beinhaltete eine Gepäckschublade für den üblichen Kleinkram einschließlich Regenzeug. Neben mehreren per Schnellverschluß fixierbaren Koffern war ein Kindersitz als Gepäckmodul geplant.

Prototyp der VSF-Fahrradmanufaktur

Prototypen des Stadtfahrrades wurden unter dem Namen ATAER City auf der IFMA 1992 gezeigt. Danach lief das Projekt "Stadtfahrrad" bei der Fahrradmanufaktur aus. Aus der geplanten Serienproduktion wurde nie etwas. Der Weg vom auf der Messe gezeigten Prototypen bis zum Serienprodukt wäre allerdings auch noch recht weit gewesen.

In diesem Zeitraum wechselte ich zu einem größerem Unternehmen der Fahrradbranche. Dort hatte ich manchmal Gelegenheit, auch andere Fahrräder mit Federungen, insbesondere Mountain-Bikes, zu fahren. Aber was soll ich mit einer so harten Federung, die für einen Downhill ausgelegt ist, wenn ich nur über schlechte Straßen und Radwege zur Arbeit oder zum Einkaufen fahre? Ich will eine wirklich komfortable Federung für den ganz normalen Fahrradalltag. Nach den Testfahrten mit den hart gefederten MTBs war es mir immer ein ganz besonderes Vergnügen mit meinem eigenen gefedertem Fahrrad abends nach Hause zu radeln. Ich habe noch kein komfortableres Fahrrad mit normaler Sitzposition gefahren.

Inzwischen habe ich mich ganz aus der Fahrradbranche verabschiedet und berufliche neue Schwerpunkte gesetzt. Dennoch bekomme ich manchmal wieder Lust, noch mal an meinem Fahrrad weiterzukonstruieren. Aber ich bin durch das Hochleistungs-3D-CAD an meinem letzten Arbeitsplatz zu sehr verwöhnt, als daß ich mich wieder mit Bleistift und Papier begnügen möchte. Außerdem entstanden die tollsten Ideen für unser Fahrrad immer im Dialog zwischen Martin und mir. Einen entsprechenden Partner oder Team habe ich zur Zeit nicht. Aber vielleicht findet sich ja jemand als Reaktion auf diesen Artikel, der dieses Projekt (gemeinsam) fortsetzen will?

Die wichtigsten Vorteile meines Fahrrades möchte ich hier noch einmal zusammenfassen:

  • Höherer Fahrkomfort durch geringere Schwingungsbelastung auf schlechten Straßen und Wegen. Dadurch weniger Ermüdung und bessere Konzentration.

  • Geringerer Rollwiderstand, insbesondere bei sehr schlechten Wegen.

  • Fahren im Stehen zur Abfederung von Stößen ist nicht nötig. Dadurch einfacheres Treten.

  • Optimale Federung und Bodenfreiheit für verschieden schwere Personen durch Verstellung der Hebelübersetzung.

  • Großer, breiter und sehr stabiler Gepäckträger.

  • Durchstieg zwischen Lenker und Sattel möglich.

  • Handling beim Abstellen durch Rahmenrohr als Griff und kürzere Gesamtlänge einfacher.

  • Sehr deutlich höhere Fahrsicherheit, insbesondere:

    • Bessere Bodenhaftung und Spurtreue bei Unebenheiten durch die Federung.

    • Plötzliche Wechsel der Bodenbeschaffenheit ("Flucht in die Botanik") sind relativ problemlos möglich.

    • Keine Lenkprobleme (Flattern o.ä.) bei hohem Tempo durch steifen Rahmen und Gepäckträger, sowie Dämpfung im Lenkgestänge.

    • Bessere Bremsverzögerung durch längerem Radstand.

    • Bremse besser dosierbar durch leichtes Bremstauchen.

    • Vollbremsungen einfacher beherrschbar, da Hinterrad nicht so schlagartig abhebt und die Lenkgeometrie bei Lastwechseln unverändert bleibt.

    • Aufsetzen einer Pedale in schnellen Kurven ist problemlos, nur minimale Reduktion der Bodenhaftung dadurch.

Seit der Idee für dieses Fahrrad sind mehr als 10 Jahre vergangen. Was hat uns die Fahrradproduktion an Neuem geboten? MTBs mit Federung, ein nicht mehr überschaubares Angebot an Telegabeln, Unisex-Cityräder mit tiefem Durchstieg - bravo, weiter so - und vereinzelt Cityräder mit Federung zusammen mit einer Telegabel. Ja, immerhin, ein klein wenig hat sich bewegt. Aber wo bleibt die Nutzung der Fahrwerktechnik? Also, weg mit nur "try and error", sowie der Federungsmystik, hin zu der ingenieurwissenschaftlichen Vorgehensweise in der Fahrwerktechnik. Und warum sind die Laufräder noch immer so riesengroß? Kleiner ist leichter, ist stabiler, ist schneller (beschleunigt). Fahrräder mit kleinen Laufräder bieten mehr Gepäckmöglichkeiten und sind kompakter, zum Beispiel beim Tragen in den Fahrradkeller. Etwas höherer Rollwiderstand? Ja, aber mit rollwiderstandsoptimierten Reifen und Federung wird dies mehr als kompensiert.

Bitte, liebe Fahrradhersteller, habt doch mal ein wenig mehr Mut. Ihr könnt bessere und komfortablere Fahrräder bauen. Es ist möglich! Ihr könnt dadurch eigenes Profil gewinnen; oder wollt Ihr auch im nächsten Jahrhundert noch Alltags-Fahrräder bauen, die man aus 10 m Entfernung mit denen von vor 100 Jahren verwechseln kann?

Und Ihr, liebe Fahrradverkäufer, gebt neuen Ideen mehr Chancen, unterstützt neue Fahrradkonzepte, fordert sie ein von den Herstellern. Verkauft Euren Kunden den Traum vom Schweben über schlechte Wege, den Traum vom komfortablen und praktischen Fahrrad im Alltag.

Und alle zusammen: Laßt uns die Zukunft auf wunderbar komfortablen und praktischen Fahrrädern erradeln!

 

Hinweise zum Copyright der Bilder:

Moulton-Bilder aus: Tony Hadland: The Moulton Bicycle. 1981 (siehe auch hier)

Bild vom Prototyp der Fahrradmanufaktur: Eigentum der Fahrradmanufaktur GmbH, Bremen

Bild des Radical Cityflitzer: Eigentum von Gerritsen & Meijers, Ingenieurs, Niederlande